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Kurdische Studien 2004/2005

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Titel:
Kurdische Studien
4. + 5. Jahrgang (2004/2005)
Info:
ISSN 1617-5417
4+5 (2004/2005)

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Kurdische Studien
4. + 5. Jahrgang (2004/2005)

Editorial

Die hier vorliegende Ausgabe der Kurdischen Studien – die Doppelnummer 2004/2005 versammelt eine Fülle von Aufsätzen, Dokumentationen und Rezensionen, die auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Themenkreisen zuzuordnen sind und aus den Bereichen Politikwissenschaft , Geschichte, Literatur- und Sprachwissenschaft stammen. Spätestens auf den zweiten Blick ergeben sich jedoch zahlreiche interessante Querverbindungen zwischen den einzelnen Texten. Am offensichtlichsten ist dabei zunächst der regionale Schwerpunkt Irakisch-Kurdistan.

Drei Aufsätze, eine Dokumentation und mehrere Rezensionen befassen sich mit diesem Gebiet. Der Aufsatz von Birgit Ammann zeichnet die Geschichte der Stadt Amadiya von ihrer Gründung im 12 Jahrhundert bis in die Gegenwart nach; die von derselben Autorin verfasste Dokumentation präsentiert Amateuraufnahmen aus dem Umfeld des Sommercamps »Ser Amadia«, welches die britische Royal Air Force zwischen 1931 und 1954 in den Metinbergen oberhalb von Amadiya unterhielt. Thomas Uwer schildert die gescheiterte Euphratexpedition von Francis Rawdon Chesney in den Jahren 1835/36 , die unter anderem auch durch kurdische Gebiete führte und zu teils skurrilen Zusammentreff en zwischen indigener Bevölkerung und »britischen Entdeckern« führte. Der Aufsatz von Irene Dulz, Siamend Hajo und Eva Savelsberg schließlich versucht eine aktuelle Beschreibung der zwiespältigen Situation der Yeziden im Irak, die, wie der Titel des Beitrags bereits sagt, dort sowohl verfolgt und ermordet als auch intensiv umworben werden. Letzterer Aufsatz sollte dabei vor dem Hintergrund des Beitrags von Jordi Tejel zu Leben und politischem Wirken Osman Sabris gelesen werden – die Idee zu diesem Aufsatz entstand aus Anlass seines 50. Todestages. In dem Artikel geht es unter anderem um die herausragende Rolle, die Osman Sabri und vor ihm die Bedirkhans dem Yezidentum als der »ursprünglichen« Religion aller Kurden im Rahmen des »nationalen kurdischen Projekts« beigemessen haben.

Dieses Element findet sich heute in der Yezidenpolitik der KDP wieder, die den kurdischen Charakter des Yezidentums betont, um eine Stärkung kurdischer kultureller Identität zu erreichen, und die erhebliche Anstrengungen unternimmt, um die Yeziden in den Nationsbildungsprozess Irakisch-Kurdistans einzubeziehen. Ein weiteres, wesentliches Anliegen in Tejels Aufsatz besteht darin, am Beispiel Osman Sabris einen neuen Ansatz zu entwickeln, wie die Biografi en kurdischer »Nationalhelden« zu (re)konstruieren sind. Bislang, so Tejel, beschränken sich die meisten Autoren darauf, Selbstzeugnisse der jeweiligen Akteure oder ihrer politischen Weggefährten zu verwenden und auf diese Weise nicht viel mehr wiederzu geben als den Diskurs innerhalb der kurdischen Nationalbewegung. Statdessen sei es erforderlich, weitere Quellen – etwa Dokumente aus den Kolonialarchiven der Briten und Franzosen – zu berücksichtigen und das Handeln kurdischer Nationalisten vor dem sozialpolitischen Hintergrund ihrer Zeit zu analysieren, also soziologische Erklärungsansätze gegenüber individualistischen vorzuziehen.

Die Frage, wie Geschichte (re)konstruiert wird, verbindet Tejels Arbeit mit zwei anderen Beiträgen dieses Heftes: dem Aufsatz von Hüseyin Ağuiçenoğlu zu den historischen Romanen von Mehmed Uzun und den Beitrag von Bülent Küçük und Olivier Grojean zur Transformation der PKK nach der Festnahme Abdullah Öcalans. Ağuiçenoğlu interpretiert die historischen Romane Uzuns als Abrechnung mit der offi ziellen türkischen Geschichtsschreibung, welche die Kurden zu einem »geschichtslosen« Volk erklärt habe. Uzun versuche, hierzu eine kurdischnationalistische Gegenkonstruktion zu entwickeln, eine »wahrhaftige Interpretation« der Vergangenheit. Inwieweit es eine solche »wahrhaftige Interpretation« überhaupt geben kann bzw. ob es Uzun in seinen historischen Romanen über kurdische Persönlichkeiten gelingt, mehr zu schaffen als die von Tejel kritisch hinterfragten nationalistischen Mythen, ist eine Frage, die sicherlich kontrovers diskutiert werden kann. Küçük und Grojean wiederum behandeln die Frage der (Re-)Konstruktion kurdischer Geschichte am Beispiel der PKK und vor dem Hintergrund foucaultscher Theorie. Die beiden Autoren fragen, wie es der PKK-Führung gelungen ist, nach der Festnahme Öcalans und der Abkehr vom bewaff neten Kampf – einem der wesentlichen Definitionsmerkmale dieser Bewegung – die Partei nichtsdestotrotz zusammenzuhalten und ihre Entwicklungsgeschichte als eine logische, bruchlose zu definieren. Dabei geht es den Autoren explizit nicht darum, »die Wahrheit« über die PKK zu entdecken, sondern die Transformation ihrer diskursiven wie nichtdiskursiven Praktiken zu analysieren. Auch Erik John Anonby thematisiert identitäre Konstruktionen, wenn er sich mit der sprachlichen und ethnischen Identität der Laki auseinandersetzt, einer im Südwesten des Iran sowie im Südosten des Irak lebenden Bevölkerungsgruppe, die teils als Luren, teils als Kurden und teils als Laki definiert wird bzw. sich selbst definiert. Joost Jongerden beschäftigt sich mit dem Wiederaufbau von in den 1990er Jahren entvölkerten und zerstörten Dörfern in Türkisch- Kurdistan. Anhand konkreter Fallstudien zeigt er, wie die (Wieder-) Ansiedlung abhängig von den jeweiligen Gegebenheiten vor Ort abläuft .

Jongerden geht dabei auch auf den (armenischen/assyrischen) christlichen Hintergrund der von ihm beschriebenen Dörfer ein, wie er im kollektiven Gedächtnis der jetzigen Bevölkerung aufscheint. Schließlich präsentiert und kommentiert Sebastian Cwiklinski in der Sparte »Dokumentation« einen Aufsatz des russischen Kurdologen K. K. Kurdoev zur Geschichte der Kurdologie im zaristischen Russland. Die Auseinandersetzung mit der russischen Kurdologie, einem zumal in Westeuropa stark vernachlässigten Themengebiet, soll im nächsten Heft mit einem Beitrag desselben Autors zur Geschichte der Kurdologie in der UdSSR fortgesetzt werden. Bereits in diesem Heft findet sich die Rezension eines Werkes der russischen Iranistin und Kurdologin Ol’ga Žigalina, die durch eine Reihe von Untersuchungen zum zeitgenössischen Iran und den iranischen Kurden bekannt geworden ist. Selbstverständlich gibt es noch weitere Rezensionen, außerdem Tagungsberichte und eine umfangreiche Zeitschriftenschau. Wir hoffen somit, unseren Abonnenten und Abonnentinnen sowie allen anderen Lesern und Leserinnen eine zwar verspätete, dafür aber besonders vielseitige und interessante Ausgabe der Kurdischen Studien vorzulegen.

Berlin, im Dezember 2005
Die Redaktionsleitung

Inhalt

  • Erik John Anonby
    Kurdish or Luri? Laki’s disputed identity in the Luristan province of Iran
  • Hüseyin Aguiçenoglu
    Der Roman als Medium der Geschichtskonstruktion:
    Neue historische Romane von Mehmed Uzun
  • Bülent Küçük & Olivier Grojean
    Re-Formierung der Macht:
    Die ambivalente Transformation der kurdischen Teilbewegung PKK
  • Joost Jongerden
    Contested spaces in landscapes of violence:
    Displacement and return in Diyarbakir at the turn of the 21st century
  • Irene Dulz, Siamend Hajo & Eva Savelsberg
    Verfolgt und umworben: Die Yeziden im »neuen Irak«
  • Jordi Tejel
    Die Rolle des Individuums in der kurdischen Historiografie: Osman Sebrî und seine Aktivitäten in Syrien unter französischem Mandat (1929-1949)
  • Thomas Uwer
    Die britische Dampfschiff expedition von 1835/36 zur Erkundung des Euphrats
  • Birgit Ammann
    Kleine Geschichte der Stadt Amadiya: Von streitbaren Fürsten, kurdischen Juden und grausamen Zeiten
  • Dokumentation
    Ser Amadia: Amateuraufnahmen aus der Umgebung des Sommercamps der Royal Air Force im irakischen Kurdistan (Birgit Ammann)
    Die Geschichte der Kurdologie im zaristischen Russland bis 1917: Ein Überblick (Sebastian Cwiklinski)
  • Rezensionen
    Strohmeier, Crucial images(Birgit Ammann)
    Stansfield, Iraqi Kurdistan (Eva Savelsberg)
    IMK e. V. (Hrsg.), »Mord im Namen der Ehre« (Judith Wolf)
    Griffiths, Somali and Kurdish refugees in London (Judith Wolf)
    Žigalina, Kurdskie chanstva Chorasana (Sebastian Cwiklinski)
  • Zeitschriftenschau
  • Tagungsberichte
    »Kurdish Week«, London,21.-25 . Juni 2004 (Dieter Christensen)
    »Barrieren – Passagen«, 29. Deutscher Orientalistentag, Halle/Saale,
    20.-24. September 2004 (Mieste Hottopp Riecke)
  • Abstracts
  • English Abstracts
  • Die Autorinnen und Autoren

 

15. Oktober 2019